Johannes Chrysostomos (ca. 349 – 407 n.Chr.):

(Erzbischof von Konstantinopel, heute Istanbul/Türkei)

“Die gegenwärtige Welt vergeht, alles dauert nur eine Zeit lang, aber niemand bedenkt das, obgleich die Tatsachen es jeden Tag laut verkünden und ihre Stimme erschallen lassen. Die vorzeitigen Todesfälle, die verschiedenen Wechselfälle auch bei Lebzeiten sind uns keine Warnung, auch nicht die Körperschwäche und die sonstigen Krankheiten. Und nicht nur an unserem Leibe, auch an den Elementen lässt sich die Vergänglichkeit wahrnehmen.

Wie wir an den einzelnen Lebensaltern tagtäglich den Tod studieren können, so zeigt sich auch in den Erscheinungen der Natur allenthalben das Unbeständige als das Charakteristische. Nie ist der Winter beständig, nie der Sommer, nie der Frühling, nie der Herbst: alles ist im Enteilen, im Fortfliegen, im Vorüberströmen begriffen. Und was soll ich von den Blumen sagen, von den Ehren und Würden, von den Königen, die heute sind und morgen nicht mehr sind? Von den Reichen, von den glänzenden Palästen, von Nacht und Tag, von Sonne und Mond?…

Gibt es etwas Beständiges in der sichtbaren Welt? Nein. Nur die Seele in uns ist unvergänglich, und um diese kümmern wir uns nicht. Für die unbeständigen Dinge tragen wir Sorge, als seien sie bleibend; doch an die unsterbliche Seele denken wir überhaupt nicht, als sei sie ein vergängliches Ding. Dort steht ein Gewalthaber. Ja, bis morgen, dann ist es mit ihm vorbei. Es hat schon gewaltigere gegeben, und heute ist ihre Spur verschwunden.

Das Leben ist ein Schauspiel, ein Traum. Wie auf der Bühne mit der Entfernung der Szenerie die bunten Illusionen zerstieben, wie beim ersten Sonnenstrahl die Traumbilder entflattern, so ist es auch, wenn die letzte Stunde kommt, für die Gesamtheit und für den Einzelnen: alles zerfließt und entschwindet. Der Baum, den du gepflanzt, bleibt stehen, auch das Haus, das du gebaut, bleibt stehen: der Pflanzer aber und der Erbauer werden hinweggerafft und vernichtet. Und trotz alledem lassen wir uns nicht bekehren. Gleich Unsterblichen richten wir unser ganzes Dasein ein und ergeben uns dem Schwelgen und Prassen.

Höre, was Salomon spricht, der die Dinge dieser Welt aus Erfahrung kannte. »Ich habe mir Häuser gebaut«, sagt er, »Gärten, Parkanlagen, Weinberge gepflanzt; ich hatte Wasserteiche, hatte Gold und Silber, verschaffte mir Sänger und Sängerinnen, Schaf- und Rinderherden.« [Koh 2,4-8 ‘] Niemand huldigte so sehr dem Lebensgenuss, niemand war so berühmt, niemand so weise, niemand trug eine so glänzende Krone, niemand ging alles so sehr nach seinem Sinn. Nun, und was war es ? Von all dem hatte er gar nichts. Im Gegenteil: was ruft er nach an diesen Genüssen? »O Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit!« [Koh 12,8 ‘] Nicht einfach Eitelkeit, nein, der höchste Steigerungsgrad.

Glauben wir ihm, ich bitte euch, dem erfahrenen Manne! Glauben wir ihm und wenden wir uns einem Gebiete zu, wo keine Eitelkeit, sondern Wahrheit, wo alles fest und beständig, wo alles auf Felsen gegründet ist, wo es kein Altern, keine Vergänglichkeit gibt, wo alles in ewiger Blüte steht; wo nichts altert, nichts grau wird, nichts schwindet. Suchen wir Gott, ich bitte euch, in echter Weise, nicht aus Furcht vor der Hölle, sondern aus Sehnsucht nach dem Himmel!

Denn, sage doch: was kann ein größeres Glück sein, als Christus zu schauen, als die ewige Seligkeit zu genießen? Nichts, gar nichts. Ganz natürlich. Denn: »Kein Auge hat es geschaut, kein Ohr hat es vernommen, und in keines Menschen Herz ist es gekommen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.« [1. Kor 2,9 ‘] Nach jenen Gütern wollen wir trachten und die irdischen verschmähen.

Tausendmal beklagen wir uns über diese und sagen, es sei gar nichts mit dem menschlichen Dasein. Aber warum jagst du dann diesem Nichts nach? Warum mühst du dich um dieses Nichts? Du siehst glänzende Paläste, und dieser Anblick bedrückt dich. Schaue doch gleich zum Himmel empor, wende das Auge von diesen Steinen und Säulen empor zu der Schönheit dort oben, dann wird dir das da unten wie ein Werk von Ameisen und Mücken vorkommen. Wähle den Gesichtspunkt der Weisheit. Steige hinaus zum Himmel und blicke von dort herunter auf die glänzenden Paläste: da wirst du sehen, dass sie nichts sind, ein Spielzeug für kleine Kinder.

Weißt du nicht, wieviel dünner, wieviel leichter, wieviel reiner und durchsichtiger die Luft ist, je weiter man in die Höhe steigt? Dort oben haben jene, die Barmherzigkeit üben, ihre Häuser und Zelte. Die da unten zerfallen am Tag der Auferstehung zu Staub, oder vielmehr schon vor der Auferstehung hat sie der Lauf der Zeit zerstört, weggewischt, vernichtet, ja, früher als der Zahn der Zeit hat oft ein Erdbeben sie mitten in ihrer Frische und Pracht weggefegt, oder ein Brand hat die ganze Herrlichkeit geschwärzt. Denn nicht nur im menschlichen Leben gibt es einen vorzeitigen Tod, sondern auch bei Gebäuden. Oft sind Bauwerke, die mit der Zeit morsch geworden waren, bei einer Erderschütterung unversehrt stehen geblieben; leuchtende, festgegründete Neubauten aber sind bei einem bloßen Donnerschlag eingestürzt und zugrunde gegangen, wie ich glaube, auf Fügung Gottes, damit wir nicht so großen Stolz in unsere Häuser setzen.” (aus “Einsichten des Glaubens – Texte der Kirchenväter”, hrsg. A. Heilmann und H. Kraft, dtv, 1968 bzw. Kösel Verlag München, 1963-1966, Johannes Chrysostomus: Homilien 1. Timotheusbrief 15,3-4)