Tertullian (ca. 150 -230 n.Chr.):
(christlicher Schriftsteller, geb. in Karthago im heutigen Tunesien, lebte nach seiner Bekehrung zum Christentum in Rom, Italien)

“(…)Vor allem dem [der Erschaffung der Welt] nämlich existierte Gott allein und war sich selbst Welt, Raum und alles. Allein existierte er, weil nichts außer ihm war. Er war aber auch nicht einmal damals allein. Denn er hatte bei sich die Vernunft, die er in sich selbst hatte, die seinige. Denn Gott ist vernünftig und die Vernunft ist in Gott das erste, und so kommt von ihm alles. Diese Vernunft ist seine Erkenntnis. Die Griechen nennen sie Logos, wofür wir das Wort “Wort” brauchen. Daher ist es bei den Unsern infolge schlichter Übersetzung gebräuchlich, zu sagen, “das Wort sei im Anfange bei Gott gewesen”, da man doch richtiger die Vernunft für älter halten müsste, weil Gott nicht bloß von Anfang an mit dem Worte, sondern auch noch vor dem Anfange mit der Vernunft versehen war und weil das Wort selbst, das auf der Vernunft basiert, anzeigt, dass letztere als seine Substanz das ältere sei. Jedoch auch so macht es keinen Unterschied. Denn, wenngleich Gott sein Wort noch nicht hatte ausgehen lassen, so hatte er es doch ebenso mit und in der Vernunft selbst bei sich, indem er schweigend dachte und mit sich überlegte, was er durch das Wort alsbald aussprechen wollte. Indem er nämlich mit seiner Vernunft ratschlagte und überlegte, machte er sie, die er mit dem Worte behandelte, zum Worte.

Um dies besser zu verstehen, erinnere Dich zuvor an Dich selber als an ein Bild und Gleichnis Gottes [Gen. 1,26 ] , zu welchem Zwecke Du die Vernunft in Dir hast. Denn Du bist ein mit Vernunft begabtes Wesen, und nicht bloss von einem mit Vernunft begabten Bildner geschaffen, sondern auch aus seiner Substanz beseelt. Betrachte, wie sich in Dir, wenn Du schweigend mit Dir selbst durch die Vernunft zu Kate gehest, genau dasselbe zuträgt, indem sie Dir bei jeder Bewegung Deines Denkens, bei jeder Regung Deiner Erkenntnis mit dem Worte entgegenkommt. Alles, was Du gedacht hast, ist Wort, was Du einsiehst, ist Vernunft. Du musst es in Deinem Geiste aussprechen, und wenn Du es aussprichst, so fühlst Du, dass das Wort mitspricht. Darin besteht eben diese Eigentümlichkeit selbst, kraft deren Du mit ihm denkend sprichst und sprechend denkst. So findet sich gewissermaßen in Dir ein zweites Wort, durch welches Du beim Denken sprichst und durch welches Du sprechend denkst; das Wort selbst ist ein zweites. Um wie viel vollkommener geht nun aber dieser Vorgang in Gott vor sich, für dessen Bild und Ähnlichkeit Du auch angesehen wirst! Denn er hat seine Vernunft und in der Vernunft das Wort in sich, sogar wenn er schweigt. Ich konnte also ohne Verwegenheit den Satz vorausschicken, Gott sei auch vor Erschaffung des Weltall nicht allein gewesen, da er ebenfalls seine Vernunft und in der Vernunft das Wort in sich selbst hatte, welch letzteres er durch Anstoßen zur zweiten Person in sich macht.

Diese Macht und dieses Verhalten der göttlichen Erkenntnis tritt in der hl. Schrift auch am Namen der Sophia zutage. Denn was ist weiser als die Vernunft, Gottes oder sein Wort? Vernimm daher von der Sophia, als von der erschaffenen zweiten Person auch die Worte: “Zuerst schuf mich der Herr, als den Anfang der Wege zu seinen Schöpfungen, bevor er die Erde machte, bevor die Berge hingestellt wurden; vor den Hügeln erzeugte er mich” [Spr 8,22-25 ], nämlich in seiner Erkenntnis schaffend und zeugend. Erkenne sodann, wie sie bei der Trennung selbst bei ihm steht: “Als er den Himmel bereitete, war ich zugegen bei ihm zugleich, und als er die Feste gründete über den Winden, die darüber befindlichen Wolken, und als er ihre Quellen sicherstellte, die unter dem Himmel sind, da war ich mit ihm, alles festigend; ich war es, bei der er sich erfreute; alle Tage aber ergötzte ich mich in seiner Person.” [Spr 8,27-30 ] Denn sobald Gott das, was er in sich mit der Vernunft, der Sophia und dem Wort beratschlagt hatte, in den betreffenden Substanzen und Arten hervortreten lassen wollte, brachte er zuerst das Wort selbst hervor, welches seine besondere Erkenntnis und Sophia in sich barg, damit das Weltall ins Dasein trete durch dasselbe Wort, durch welches es gedacht und beschlossen, oder richtiger schon gemacht worden war, insofern es sich in der göttlichen Erkenntnis befand. Denn nur das fehlte dem Weltall noch, dass es auch in seinen Einzeldingen und Substanzen offen erkannt und ergriffen würde.