Das Thema Vielfalt ist heutzutage in aller Munde. Häufig wird es als Wundermittel für Fortschritt und als Grundlage für wahre Menschlichkeit betrachtet.

Vielfalt ist auch im Glauben ein intensiv diskutiertes Thema und wird von manchen als Argument gegen vermeintlich zu strenge Glaubensrichtlinien oder Normen der eigenen Glaubensgemeinschaft verwendet.

Katharina von Siena (1347-1380), eine Dominikanertertiarin, Kirchenlehrerin und Mitpatronin Europas, hat sich bereits zu ihrer Zeit mit dem Thema Vielfalt im Glauben und der geistlichen Berufung auseinandergesetzt und Gedanken geäußert, die auch für uns heute hilfreich sein können:

Die höchste Güte zeigt sich in vielfältigen Weisen, und Christus hat gesagt: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen“ (Joh 14,2). Wer könnte die Vielfalt der Mittel, Besuche, Gaben und Gnaden Gottes beschreiben – nicht nur in den Geschöpfen, sondern auch in einer einzigen Seele?
Denn wie die Tugenden, obwohl alle durch die Liebe gekennzeichnet, sich voneinander unterscheiden, so sind auch die Verhaltensweisen und die Werke der Diener Gottes sehr unterschiedlich; derjenige, der die Tugend der Liebe vollkommen besitzt, hat nicht auch alle anderen, sondern jeder hat eine besondere, die alle anderen überragt. Daraus ergeben sich die Unterschiede im Leben. Derjenige, der vor allem die Nächstenliebe besitzt, findet sein ganzes Glück darin, sie dem Nächsten gegenüber auszuüben; derjenige, der die Demut besitzt, sucht leidenschaftlich die Einsamkeit. Der eine liebt die Gerechtigkeit, der andere die Freiheit als Frucht eines lebendigen Glaubens, der nichts zu fürchten scheint. Einer liebt die Buße und gibt sich ganz der Kasteiung seines Leibes hin; der andere bemüht sich, seinen eigenen Willen durch wahren und vollkommenen Gehorsam zu unterwerfen. Die Mittel sind also unterschiedlich, obgleich alle auf dem Weg der Liebe laufen.
Die Heiligen, die sich des ewigen Lebens erfreuen, sind alle diesem Weg der Liebe gefolgt, aber auf unterschiedliche Weise; denn keiner gleicht dem anderen. Die gleichen Unterschiede gibt es auch unter den Engeln, die nicht alle gleich sind. Es gehört zu den Freuden der Seele im ewigen Leben, die Größe Gottes in der Verschiedenheit der Auszeichnungen zu sehen, die er seinen Heiligen schenkt.

Brief 101 an Dom Jacques, Nr 55 (trad. Cartier, Téqui, 1976, tome 1, p. 662-663), zitiert aus Evangelium Tag

Das bedeutet, dass es Vielfalt im Glauben bzw. im Glaubensleben geben darf und sogar sollte, da der Glaube ansonsten wohl auch krank machen würde.

Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass es um Vielfalt im Glauben geht und nicht um Vielfalt des Glaubens. Letzteres, also verschiedene Glaubenslehren, führt zwangsläufig zu Streitigkeiten und Spaltungen, während Vielfalt im Glauben die Freiheit verschiedener Glaubenswege und Umsetzungsformen schenkt.