Nach dem Kapitel “Die Untersuchungshaft des heiligen Paulus und seine Berufung an den Kaiser” folgt heute das letzte Kapitel aus dem Abschnitt “Die Kirche und das Judentum” aus dem Buch “Geschichte der Kirche Christi” von DDr. Johannes Schuck aus dem Jahr 1938 (Echter Verlag):
Als der Völkerapostel bei seiner Abreise nach Rom den Boden Palästinas verließ, war der Kampf zwischen Judentum und Christentum im Wesentlichen abgeschlossen. Diese erste, aber sehr schwere Zeit der Urkirche hatte die drei Aufgaben: Erstens die junge Christenschar gegen die Angriffe des Judentums zu verteidigen, zweitens das Evangelium über die Grenzen des Judentums hinauszutragen und drittens das Reich Christi insofern und insoweit vom alten Bund loszulösen, daß fernerhin kein Christ die bloß zeitgeschichtlich bedingten Gesetze und Gebräuche Israels zu befolgen brauchte. Alle drei Aufgaben waren erfüllt worden. Ihre Erfüllung hatte der Urkirche viele Wunden geschlagen und viele Opfer gekostet, aber es war dem Judentum nicht gelungen, die Verkündigung des Evangeliums zu unterbinden und die Lebensadern des Reiches Christi abzuschnüren. Ja, die Predigt der Jünger Jesu hatte nicht bloß zur Bildung zahlreicher, blühender Christengemeinden in Palästina geführt, das Evangelium war weit in das Innere Asiens vorgedrungen, war an den Küsten des mittelländischen Meeres entlang gelaufen und — was den Juden am meisten zu denken geben konnte — sie selbst hatten durch Haß und Verfolgung zur Verbreitung des Evangeliums beigetragen. Auch die dritte Aufgabe war gelöst. Mochten auch die Judenchristen an ihren ererbten jüdischen Gebräuchen festhalten, mochten auch die Heidenchristen dort, wo sie unter Juden und Judenchristen lebten, auf diese Rücksicht nehmen — die Frage, ob der Weg zu Christus über Moses führe, war auf dem Apostelkonzil grundsätzlich und für alle Zeit entschieden worden. Petrus hatte erklärt: „Gott hat keinen Unterschied zwischen uns und den Heiden gemacht . . . vielmehr glauben wir, durch die Gnade des Herrn Jesus Christus das Heil zu erlangen, wir wie auch sie” (Apg 15, 9, Il).
Den dunklen, schweren Schlußstrich unter diese ganze Entwicklung zog Gottes Hand mit der Zerstörung Jerusalems. „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder”, hatten die Juden auf den Straßen Jerusalems geschrien. Im Jahre 70 kam das Blutgericht, nicht unvorbereitet, aber so rasch und in einem solch entsetzlichen Vollzug von den Juden gewiß nicht erwartet. Sonst hätten sie nicht geradezu zum Krieg mit Rom gedrängt, sie, das winzige, alleinstehende Volk, zudem in sich selbst uneins und gespalten! Aber sie lebten immer noch in der Hoffnung, ihr Messias werde kommen und ihnen zum Sieg über die Heidenwelt verhelfen.
Die römischen Landpfleger freilich taten das ihrige, um sie das fremde Joch und die eigene Ohnmacht immer härter fühlen zu lassen. Die heidnische Tempelwache verhöhnte und verlegte ein über das andere Mal das religiöse Empfinden Israels, römische Soldaten verbrannten die heilige Gesetzesrolle, die dem Kaiser Tiberius geweihten Schilde wurden im Tempel aufgehängt, was als eine Entweihung des Tempels angesehen wurde, und es konnte von Pilatus nur mit vieler Mühe erreicht werden, daß die Schilde wieder entfernt und in den Tiberiustempel nach Cäsarea gebracht wurden. Kaiser Caligula befahl sogar, seine Bildsäule im Tempel aufzustellen, und bloß der Tod des Kaisers verhinderte den Vollzug des Befehls. Es bedurfte schließlich nur mehr eines Anstoßes und der Aufruhr fuhr zischend durch das Land.
Diesen Anstoß gab der Landpfleger Gessius Florus. Wenn die Bedrückungen seiner Vorgänger noch zu überbieten waren, er überbot sie. Mit dem Räubergesindel machte er gemeinschaftliche Sache und ließ straflos morden und brennen, wenn er nur seinen Teil an der Beute bekam. Fast viertausend Menschen hatte er schon in den Tod getrieben; da legte er auch noch Hand an den Tempelschatz. Jetzt schrien die Juden verzweifelt auf, griffen zu den Waffen und brachten sogar dem aus Syrien herbeieilenden römischen Statthalter Cestius Gallus eine Niederlage bei. Mit dem Erfolg wuchs der Mut. Aber schon ließ der Kaiser auf Anruf eben dieses Statthalters sechzigtausend Mann, geführt von dem Feldherrn Vespasian und dessen Sohn Titus gegen Jerusalem vorrücken. Rasch war fast ganz Palästina erobert und die Römer trafen bereits die Vorbereitungen zur Belagerung Jerusalems, als die Juden unter sich uneins wurden und gegeneinander zu wüten begannen, so entsetzlich und blutig, daß Vespasian glaubte, warten zu können, bis sie sich selbst vernichtet hätten. Unterdessen Kaiser geworden, übertrug er seinem Sohn Titus den Oberbefehl über die Truppen und dieser, auf rasche Beendigung des Krieges bedacht, erstürmte im Jahr 70 die erste und zweite Mauer der Stadt und forderte dann die Juden zur Ergebung auf. Ohne Erfolg. In sich selber verbissen und gegenseitig sich mordend unterschätzten sie vielfach die schweren Wetterwolken, die sich schwarz und drohend über Stadt und Tempel legten, über den Tempel, der sich zum Passahfest rüstete, über die Stadt, die wegen des Osterfestes mit Pilgern überfüllt war. Dazwischen freilich machten sie immer wieder verzweifelte Anstrengungen, die Römer zurückzutreiben. Bisweilen gelang es. Im Mai des Jahres 70 hatten die Belagerer nach siebzehntägiger Arbeit vier Wälle gegen die Burg Antonia und die Oberstadt aufgeführt und auch schon die Sturmmaschinen hinaufgebracht. Johannes von Gischala, einer der jüdischen Führer, ließ zwischen der Burg Antonia und den beiden ihr entgegenstehenden Wällen das Erdreich untergraben, stützte es mit Pfählen, brachte Pech und Harz in die Höhlung und zündete es an. Die Römer merkten nichts, bis plötzlich mit furchtbarem Gekrach ihr ganzes Werk einstürzte. Zwei Tage später machte eine Schar jüdischer Soldaten unter Führung eines gewissen Simon einen Ausfall gegen die vor der Oberstadt aufgeführten Wälle. Drei Soldaten sprangen mit brennenden Fackeln mitten durch die Römer hindurch und zündeten die Kriegsmaschinen an. Nun ließ Titus um die ganze Stadt eine Mauer aufführen damit den Juden jede Zufuhr abgeschnitten werde und sie, durch Hunger gezwungen, sich ergeben müßten. Alle Hände mußten an der Mauer arbeiten; in drei Tagen war sie fertig. Wie hatte der Herr gesagt? „Es werden Tage über dich kommen, da deine Feinde einen Wall um dich aufwerfen, dich ringsum einschließen und von allen Seiten dich bedrängen werden” (Lk 19, 43).
In diesen Tagen — vom 14. April bis zum l. Juli des Jahres 70 — sollen zu einem einzigen Tor einhundertfünfzehntausendachthundertachtzig Leichen hinausgetragen worden sein. Als Titus an einem mit verwesenden Leichen angefüllten Abgrund an der Mauer vorüberging, hob er vor Entsetzen die Hände gegen den Himmel, um zu bezeugen, daß er an dem Frevel schuldlos wäre. Bemüht, den unvermeidlichen Untergang der Stadt zu beschleunigen, ließ er vier neue Wälle gegen die Burg Antonia aufrichten. Wer noch die Kraft hatte, suchte auszubrechen und durchzukommen; alle, denen es gelang, wurden abgefangen und gekreuzigt, fünfhundert und noch mehr an einem Tag, Am 11. Juli wurde im Tempel das letzte Opfer dargebracht, seit 233 Jahren kam der erste Tag ohne Opfer. Dann wurde die Burg Antonia erstürmt. Titus war bestrebt, Stadt und Tempel zu schonen. Er wollte sogar dem jüdischen Anführer und seinen Soldaten freien Abzug gewähren — Jerusalem erkannte nicht, was ihm zum Frieden diente.
Jetzt ließ Titus die Mauerbrecher gegen den Tempel stoßen; aber der Tempel war so fest gebaut, daß die Mauerbrecher nichts ausrichteten. Auch ein Sturm mißlang. Ein letztes Mittel: in die Säulengänge wurde Feuer gelegt. Titus ließ es jedoch wieder löschen, um das Tempelhaus zu retten. Da warf ein römischer Soldat durch die Öffnung einen Feuerbrand in das Innere des Tempels und der Tempel ging in Flammen auf; nur die heiligen Geräte und einige Kostbarkeiten wurden gerettet. Das war am 10. August. Drei Wochen später wurde auch die obere Stadt mit der Burg des Herodes genommen. Und dann wurde geplündert und gemordet und der Überrest, siebenundneunzig siebenundneunzigtausend Juden, nach Rom in Gefangenschaft und Sklaverei geführt. Als Titus das eroberte starke Burggemäuer betrachtete, sprach er: „Ein Gott hat die Juden aus diesen Festen gezogen; denn was vermögen menschliche Hände und Werkzeuge gegen solche Türme?”
Was aber war aus den Christen Jerusalems geworden? In der Erinnerung an die Weissagung Christi und durch eine besondere Offenbarung belehrt, waren sie schon vor der Umzingelung Jerusalems nach der Stadt Pella jenseits des Jordan geflohen. Während Jerusalem verhungerte und verblutete, waren sie dort in Sicherheit. Und doch schien ihnen der Boden unter den Füßen zu wanken, als die Flammen aus dem Tempel schlugen und weithin das in den blutroten Schein starrende Land unheimlich beleuchteten, als Zion an sich und in sich zusammenstürzte. Sie müßten nicht Kinder ihres Volkes gewesen sein. Aber von den Juden rings im Land abgestoßen, verschmolzen sie, wenige zu Sekten sich entwickelnde Gruppen abgerechnet, mit den Heidenchristen, wurden nach dem Zusammenbruch des Alten erst recht für das Neue dankbar und lernten das Wort des heiligen Paulus begreifen: „Ziehet den alten Menschen samt seinen Werken aus und ziehet den neuen an, der zur vollen Erkenntnis fortschreitet und nach dem Bilde seines Schöpfers sich erneuert. Da heißt es nicht mehr Heide und Jude, Beschnittener und Unbeschnittener . . . sondern alles und in allen Christus” (Kol 3, 9—11).tausend Juden, nach Rom in Gefangenschaft und Sklaverei geführt. Als Titus das eroberte starke Burggemäuer betrachtete, sprach er: „Ein Gott hat die Juden aus diesen Festen gezogen; denn was vermögen menschliche Hände und Werkzeuge gegen solche Türme?”
Fortsetzung folgt mit dem Kap. “Die Kirche auf dem Zug nach Westen“.
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