Heutzutage wird häufig argumentiert, vor allem auch von Christen, dass die Liebe das Höchste, der entscheidende Maßstab und mehr oder weniger das einzige Gebot sein müsste.

Das ist richtig. Aber was ist Liebe? Darunter werden die verschiedenensten Dinge verstanden. Häufig einfach das Gefühl der Liebe. Einem Gefühl, mit dem ich mich zumindest für den Moment wohl und glücklich fühle.

Aber ist das auch das, was Christen darunter verstehen sollten bzw. was Jesus wirklich gelehrt hat?

Cäsarius von Arles (470-543), Mönch und Bischof, beschreibt die wahre Liebe nämlich ganz anders:

„Wer das ganze Gesetz hält und nur gegen ein einziges Gebot verstößt, der hat sich gegen alle verfehlt“ (Jak 2,10). Welches ist dieses einzige Gebot, wenn nicht die wahre Liebe, die vollkommene Nächstenliebe? Von ihr sagt auch der Apostel Paulus: „Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ (Gal 5,14). […]

Denn die wahre Liebe ist geduldig im Unglück und bescheiden im Glück. Sie ist stark in schweren Leiden, fröhlich in guten Werken, vollkommen sicher in der Anfechtung. Unter wahren Brüdern ist sie sehr milde, unter falschen sehr geduldig. Sie bleibt unschuldig inmitten von Nachstellungen; sie seufzt inmitten von Bosheit; sie atmet auf in der Wahrheit. Sie ist keusch in der verheirateten Susanna, in der Witwe Hanna und in der Jungfrau Maria (vgl. Dan 13,1f.; Lk 2,36). Sie ist demütig im Gehorsam des Petrus und freimütig im Argumentieren des Paulus. Sie ist menschlich im Zeugnis der Christen und göttlich in der Vergebung Christi. Denn die wahre Liebe, liebste Brüder, ist die Seele der ganzen Heiligen Schrift, die Kraft der Prophetie, das tragende Gerüst der Erkenntnis, die Frucht des Glaubens, der Reichtum der Armen, das Leben der Sterbenden. Bewahrt sie also in Treue, schätzt sie hoch von ganzem Herzen und mit der ganzen Kraft eures Geistes (vgl. Mk 12,30).

Predigten ans Volk, 23, 4–5; inspiriert vom hl. Augustinus; SC 243 (Sermons au peuple, 21–55, tome II, Éd. du Cerf 1978, p. 51, rev.; ins Dt. übers. © Evangelizo)