Das Lied der Liebe

Christus schreit am Kreuz laut auf […] Er bietet den Frieden an, er wendet sich an dich, denn er wünscht, dass auch du die Liebe umarmst […]: Bedenke das, Geliebter! Ich, der grenzenlose Schöpfer, habe Fleisch angenommen,  von einer Frau geboren werden zu können. Ich, Gott, habe mich als Bettler zu den Bettlern begeben. Ich habe eine demütige Frau zur Mutter erwählt. Mit den Zöllnern habe ich gegessen. Die Sünder habe ich nicht zurückgewiesen. Die Verfolger habe ich ertragen. Die Geißel habe ich zu spüren bekommen und „bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8) habe ich mich erniedrigt. Was hätte ich tun können und habe es nicht getan? (vgl. Jes 5,4). Ich habe meine Seite mit der Lanze öffnen lassen. Meine Hände und Füße habe ich durchbohren lassen. Warum schaust du nicht auf mein blutüberströmtes Fleisch? Warum achtest du nicht auf mein geneigtes Haupt (vgl. Joh 19,30)? Ich lasse mich den Verdammten zuzählen und sterbe erdrückt unter Schmerzen für dich, damit du für mich leben mögest. Wenn du dich nicht allzu sehr hervorhebst, wenn du dich nicht den Fesseln des Todes entreißen willst, dann kehre wenigstens jetzt um, weil ich für dich den kostbaren Balsam, der mein eigenes Blut ist, vergossen habe. Blicke mich an, wie ich sterbe und halte an auf dem Abhang der Sünde. Ja, höre auf zu sündigen: Du bist um einen so teuren Preis erkauft! Für dich wurde ich Mensch, für dich bin ich geboren worden, für dich habe ich mich dem Gesetz unterstellt, für dich wurde ich getauft, dem Spott preisgegeben, gefangengenommen, verhöhnt, bespuckt, gegeißelt, verletzt, ans Kreuz geheftet, mit Essig getränkt und schließlich wurde ich für dich geopfert. Meine Seite ist geöffnet: ergreife mein Herz. Laufe herbei, falle mir um den Hals: ich schenke dir meinen Kuss. Ich habe dich erworben als mein Erbteil, so dass kein anderer dich besitzen kann. Gib dich mir ganz hin, der ich mich ganz für dich hingegeben habe. (Das Lied der Liebe, 32 von Richard Rolle (um 1300-1349), englischer Einsiedler, aus Evangelium Tag für Tag)