Nach dem Kapitel “Das Apostelkonzil” gibt es heute das 9. Kapitel aus dem Buch “Geschichte der Kirche Christi” von DDr. Johannes Schuck aus dem Jahr 1938 (Echter Verlag):

Wer das Wachsen der jungen Kirche Christi bisher verfolgte, hörte wohl von den Diakonen Stephanus und Philippus, von Petrus, Paulus und Barnabas; von den übrigen Aposteln aber fast gar nichts. Wo waren sie geblieben? Hatten sie denn keine Bedeutung für die erste Entwicklung des Reiches Gottes, weil sie gar nicht erwähnt wurden?

Sie hatten eine grundlegende Bedeutung. Sie waren ja die von Jesus selbst unmittelbar hinausgesandten Zeugen seines Lebens, seiner Lehre und seiner Auferstehung. In ihren Händen ruhten die Schlüssel des Himmelreiches. Sie hatten die junge Kirche zu bilden, sie hatten die Gläubigen zu lehren und durch Gesetze und Strafen zu leiten. Weil sie das Lebenswerk Jesu weiterzuführen hatten, waren sie durch Wundergaben beglaubigt. Gegen ihre Lehren gab es keinen Einspruch und eine Berufung gegen ihre Gesetze war ausgeschlossen. Sie waren die Türe in das Reich Gottes. Ihre Gewalt übten sie aus als einheitlicher Verband unter Petrus als ihrem Haupt. Dieser Verband soll bis zum Ende der Welt bestehen; er muß sich also immerfort ergänzen und das geschieht durch die Wahl von Bischöfen. Aber der einzelne Bischof ist nicht Nachfolger eines einzelnen, bestimmten Apostels; das ist nur der Fall beim Nachfolger des heiligen Petrus, dem Bischof von Rom.

Was die Apostel kraft ihres Amtes vor ihren Nachfolgern voraus hatten, war die Wundergabe, die persönliche Unfehlbarkeit und der Lehr- und Hirtenauftrag für die ganze Kirche. Daß sie bis jetzt nicht weiter genannt wurden, hat seinen Grund darin, daß die Quellen für die Geschichte der Urkirche wenig von ihnen berichten. Darüber dürfen wir uns nicht wundern; denn diese Schriften wurden ja nicht zu dem Zweck verfaßt, uns ein vollständiges Bild der apostolischen Wirksamkeit in der Urkirche zu geben, und wenn wir auch von der Arbeit keines einzigen Apostels etwas wüßten, das wüßten wir dennoch und zwar aus dem Evangelium, daß die Arbeit der Apostel die Fortsetzung der Arbeit unseres Heilandes war und darum für die Gründung und das Wachsen des Reiches Gottes so notwendig wie es für die Ernte das Pflügen und Säen, für den Baum das Pflanzen und Begießen ist. Jeder einzelne Apostel war von Christus selbst gerufen und in den Heilsplan der Welt hineingestellt worden; das Apostolat war Rückgrat und Herz des geheimnisvollen Leibes Jesu Christi. Deswegen wurde auch sofort die Lücke ausgefüllt, die durch das Ausscheiden des unseligen Judas Iskariot entstanden war.

In einer Versammlung von ungefähr einhundertzwanzig Jüngern erhob sich der heilige Petrus und sprach: „Einer von den Männern, die mit uns all die Zeit zusammen waren, da der Herr Jesus unter uns aus- und einging, von der Taufe des Johannes angefangen bis zum Tage seiner Himmelfahrt, einer von diesen muß mit uns Verkündiger der Auferstehung Jesu werden. Darauf stellten sie zwei Männer auf, Josef genannt Barnabas mit dem Beinamen der Gerechte und Matthias, und sie beteten: Du o Herr, kennst alle Herzen. Zeige an, wen von diesen beiden Du erwählt hast, damit er diesen Dienst, das Apostelamt, Übernehme, von dem Judas abgewichen ist, um seinem Schicksal zu verfallen. Darauf warfen sie das Los über sie: es fiel auf Matthias und so war Matthias den zwölf Aposteln beigefügt” (Apg 1, 21—26).

Wie sehr die Apostel in Jerusalem den Mittelpunkt der jungen Kirche bildeten, geht schon daraus hervor, daß der Mann, den der Herr selbst als Zeugnis seiner Auferstehung und als bevorzugtes Werkzeug der Glaubensverkündigung vom Himmel herab bestimmte, daß der heilige Paulus zu den zwölf Aposteln nach Jerusalem ging und sich ihnen vorstellte. Daher schickten die Christen in Antiochia, als sie Zweifel hatten und eine Entscheidung wollten, eine Botschaft zu den Aposteln.

Wurde die Bezeichnung „Apostel” auch auf andere um die Verkündigung des Evangeliums verdiente Jünger des Herrn übertragen, so ist sie doch ursprünglich bloß der auszeichnende Titel für die zwölf Jünger, die Jesus, vielleicht mit Rücksicht auf die zwölf Stammväter Israels, gerade in dieser Zahl nach der Bergpredigt zu seinen beständigen Begleitern auswählte und zur Fortsetzung seiner himmlischen Sendung und seiner irdischen Arbeit mit besonderen Vollmachten ausrüstete und in die Welt hinaus sandte.

Von dem Völkerapostel Paulus abgesehen sind wir am besten über die Wirksamkeit des heiligen Petrus unterrichtet. Freilich stehen nicht alle Zeitangaben über seine Tätigkeit bis auf Jahr und Tag fest. Als der Apostelfürst im Jahr 42 oder 43 den Nachstellungen des Königs Herodes Agrippa I. durch einen Engel entrissen und aus dem Gefängnis befreit worden war, wandte er sich vermutlich nach Antiochia. Vielleicht war er in dieser Stadt schon früher einmal, es soll um das Jahr 35 gewesen sein; auf jeden Fall gilt Petrus als der Begründer des antiochenischen Bischofssitzes. Von Antiochia aus begab sich der Apostelfürst nach Rom; in welchem Jahre das geschah, ist unbestimmt. Im Jahre 50 aber kehrte er von Rom wieder nach Jerusalem zurück und leitete hier das Apostelkonzil. Von Jerusalem aus reiste er neuerdings nach Antiochia, um nach einem kurzen Aufenthalt daselbst die Christengemeinde in Kleinasien aufzusuchen und sich dann nach einem Besuch der Christen in Korinth zum zweitenmal nach Rom zu begeben. Hier wirkte er als Bischof von Rom bis zu seinem Tode im Jahre 67, besorgt nicht nur für die Christen in Rom, sondern auch, wie es sein Oberhirtenamt verlangte, für die ganze Herde Christi. Dafür zeugen seine zwei Briefe; von Rom aus schrieb er sie an die kleinasiatischen Christen, die vom heiligen Petrus bekehrt und zu Gemeinden zusammengeschlossen in ihrer heidnischen Umgebung sehr gefährdet waren.

Geschichtlich verbürgte Nachrichten haben wir auch über den Apostel Johannes und über die beiden Apostel Jakobus den Älteren und Jakobus den Jüngeren. Nach dem Tod der Mutter Jesu, der nach glaubwürdiger Überlieferung in Jerusalem erfolgte, wirkte der heilige Johannes in der großen kleinasiatischen Stadt Ephesus. Von hier aus führte er die Aufsicht über die Christengemeinden Kleinasiens, bis er, wie eine Überlieferung berichtet, um das Jahr 90 unter der Regierung des Kaisers Nerva nach Rom gebracht, da in einen Kessel siedenden Öles geworfen und, wunderbar vor dem Tode bewahrt, auf die Insel Patmos verbannt wurde. In der Verbannung schrieb er „Die geheime Offenbarung”, ein prophetisches Buch, das in geheimnisvollen Bildern eine Geschichte des Reiches Gottes entwirft. Nach Ephesus zurückgekehrt, schrieb er seine drei Briefe und veröffentlichte, gegen den Irrlehrer Cerinth gerichtet, sein Evangelium, das die drei anderen Evangelien voraussetzt, ausführlicher die Predigten Jesu in Jerusalem bringt und besonders die Gottheit Jesu in den Vordergrund stellt. In Ephesus, wo der Apostel in hohem Alter starb, wurde viele Jahrhunderte lang sein jetzt nicht mehr bekanntes Grab hoch verehrt.

Sein Bruder, der Apostel Jakobus der Ältere, wurde, wie schon oben erwähnt, der erste von den Zwölfen, der für Christus den Martertod starb. Um den Juden zu gefallen, ließ ihn Herodes Agrippa I. im Jahre 42 oder 43 hinrichten. Daß er in Spanien gepredigt hat, ist nur eine Legende, mögen auch die in Compostela gezeigten Reliquien echt sein.

Sein Namensvetter, Jakobus der Jüngere, ein Verwandter der allerseligsten Jungfrau, scheint nach der Himmelfahrt des Herrn immer in Jerusalem geblieben zu sein. Als der heilige Petrus im Jahre 42 oder 43 die Stadt verließ, übernahm Jakobus der Jüngere die Leitung der Christen in Jerusalem und gewann auch großen Einfluß auf die Juden, hauptsächlich deswegen, weil er unter den Aposteln derjenige war, der am meisten den Zusammenhang mit dem mosaischen Gesetz und den alttestamentlichen Gebräuchen bewahrte. Seinem Einfluß hatten die Judenchristen es zu verdanken, daß bei der Befreiung der Heidenchristen von den jüdischen Gebräuchen auf dem Apostelkonzil immerhin noch eine so große Rücksicht auf sie genommen wurde. Sein Ansehen bei den Juden war auch der Grund, warum der Hohepriester Ananus ganz gegen das römische Recht — der Landpflegerposten war damals unbesetzt — ihn zum Tod verurteilen ließ. Nach einem alten zuverlässigen Bericht wurde er im Jahre 62 oder 63 von der Zinne des Tempels herabgestürzt und, da er nach dem Sturz noch lebte, durch einen Steinhagel und durch den Schlag mit einem Knüppel getötet. Es ist der Apostel, der uns den herrlichen Jakobusbrief hinterließ.

Über die anderen Apostel haben wir wenig Angaben, die geschichtlich zu gewinnen, sei mit Zurückstellung der an den einzelnen Orten sich abspielenden Ereignisse sofort der weitere Weg des Apostels verfolgt. Er führte von Philippi über die Städte Amphipolis und Apollonia nach Thessalonich — dem jetzigen Saloniki — und von Thessalonich über Beröa südwärts der Küste des Ägäischen Meeres entlang nach Athen und Korinth. Von Korinth aus kehrte der Apostel quer über das Ägäische Meer nach Kleinasien zurück, landete in der Hafenstadt Ephesus und fuhr trog der Einladung, länger zu bleiben, mit dem Versprechen, später wieder zu kommen, nach Cäsarea an der Küste Palästinas, begrüßte dort die Christen und eilte nordwärts nach seinem Antiochia. Die ganze Reise dauerte ungefähr zwei Jahre und war, der Zeit nach kürzer als die erste, an bedeutungsvollen Ereignissen, an Drangsalen und Erfolgen nicht ärmer.

In Philippi werden Paulus und Silas gegeißelt und in den Kerker geworfen. Ein Erdbeben aber erschüttert die Stadt, so daß Tür und Tor offen stehen und die Gefangenen in die Freiheit laufen können. Der verzweifelte Kerkermeister will sich töten; Paulus hält ihn jedoch zurück und tröstet ihn. Nun wäscht der heidnische Mann den Aposteln die blutigen Striemen, wird ein Jünger des Herrn und läßt sich taufen. In Thessalonich sind die Juden wieder hinter ihm her, heben Volk und Obrigkeit gegen Paulus und Silas auf und sie müssen flüchtig gehen; aber sie lassen eine Christengemeinde zurück. In Beröa: auch hier die Juden mit Wühlereien und Hetzereien, so daß, während Silas und Timotheus, der schon die Apostel von Lystra aus begleitet hat, zurück bleiben, Paulus den Staub von den Füßen schüttelt und allein weiterreist. In Athen: die wunderbare ganz auf die neuartigen heidnischen Griechen eingestellte Predigt, die an den Altar mit der Inschrift „Dem unbekannten Gott” anknüpft, und dann die Bekehrung des vornehmen Dionysus, des nachmaligen ersten Bischofs von Athen. In Korinth, wo der Apostel sich achtzehn Monate aufhält und seine beiden, in Beröa zurückgebliebenen Begleiter wieder zu ihm stoßen: wie überall so auch hier Feindseligkeiten und Nachstellungen vonseiten der Juden. Auf seinen Nachweis, daß Jesus der ihnen verheißene Messias sei, wissen sie bloß mit Lästerungen und Schmähungen zu antworten und bringen es schließlich so weit, daß dem Apostel nichts anderes übrig bleibt, als die halsstarrigen Juden sich selbst zu überlassen und zu erklären: „Euer Blut komme über euer Haupt! Ich habe keine Schuld. Von nun an werde ich zu den Heiden gehen” (Apg 16, 6). Sie aber lassen ihn keineswegs gehen, sie ergreifen ihn und schleppen ihn an das Gericht des Statthalters Gallio, um seine Verurteilung zu erwirken, weil er sich gegen ihr Gesetz verfehlt habe. Dem heidnischen Gallio aber ist das jüdische Gesetz gleichgültig; Gesetz hin, Gesetz her, denkt er und weist sie fort.

Für die Entwicklung des Reiches Gottes auf Erden gewann diese zweite Missionsreise eine große Bedeutung. Schon dadurch, daß Paulus jetzt sich immer mehr auf den Westen einstellt. Er läßt Bithynien liegen und betritt den Boden Europas. Auch innerlich ein Ruck nach dem heidnischen Westen, eine Abwendung von den mehr an der Ostküste des Mittelländischen Meeres wohnenden Juden. Wir hörten, wie er in Korinth sagte: „Von nun an will ich zu den Heiden gehen.” Wohl treffen wir ihn auch später noch, wie er in den Synagogen den Juden predigt; aber wir haben doch allen Grund anzunehmen, daß das bisherige Verhalten der Juden seinem Herzen die Heiden näher rückt.

Die zweite Bedeutung dieser Missionsreise liegt darin, daß Paulus jetzt ganz nah und länger mit dem „Hellenismus”, d. h. der griechischen Geistesrichtung zusammentrifft. Der Einfluß der griechischen Geistesrichtung auf die Entwicklung des Christentums zwingt dazu, nach ihrem Wesen zu fragen. Der Geist der Griechen war wissenschaftlich und strebte darnach, den Dingen auf den letzten Grund zu kommen und sie einheitlich zu erklären. Der Geist der Griechen war künstlerisch und strebte darnach, die stofflichen Dinge kunstvoll zu gestalten und zu verklären. Der Geist der Griechen war auch sinnlich und strebte darnach, diese Dinge restlos zu genießen und sich von ihnen zu nähren. Neben dem unleugbaren Aufschwung in die höhere Welt des Geistes war der griechische Geist ein ebenso unleugbares Herabgleiten in die Tiefen der Genußsucht, in Unzucht und Unmäßigkeit. Insbesondere gilt dies von der Stadt, die Paulus auf dieser Reise ganz gründlich kennenlernte, von der zweihunderttausend Einwohner zählenden Handelsstadt Korinth. „Korinthisch leben” war gleichbedeutend mit Unzucht treiben. In den griechischen Lustspielen der späteren Zeit erschien der Korinther vielfach als Trunkenbold. Die Hauptvertreter korinthischer Art waren der rastlose Kaufmann, der hemmungslose Schlemmer, der kraftstrotzende Athlet.

Die zweite Missionsreise bietet uns schließlich Gelegenheit, an dem heiligen Paulus einen Zug zu entdecken, der uns bei der Betrachtung seines Bildes nicht entgehen darf: er zeigt den Apostel als den selbstbewußten römischen Bürger. Nach jenem Erdbeben in Philippi, von dem vorhin die Rede war, sandten die Stadtobersten ihre Diener zu dem Kerkermeister mit dem Befehl, Paulus und Silas frei zu lassen. Als der Kerkermeister Paulus diese Botschaft überbrachte, erwiderte der Apostel: „Öffentlich und unverhört haben sie uns, die wir römische Bürger sind, gegeißelt und in das Gefängnis geworfen und jetzt entlassen sie uns heimlich? — Nein, nein; sie sollen kommen und uns selbst hinausführen” (Apg 16,37 f). Als den Stadtobersten diese Worte berichtet wurden, fürchteten sie sich, da sie hörten, es seien römische Bürger und sie kamen, leisteten Abbitte, führten sie heraus und baten sie, die Stadt zu verlassen (Apg 16, 38 f).

Reich an Mühsalen und Drangsalen war diese Reise, aber auch reich an Eroberungen und Erfolgen; was die Apostel von ihr heimtrugen, waren Narben und Lorbeeren.

Fortsetzung folgt das Kap. “Die dritte Missionsreise des Apostel Paulus“.