Wir kennen das alle. Wenn wir verletzt, wenn wir ungerecht behandelt oder gar verleumdet werden, dann schreien unsere Gefühle nach Gerechtigkeit, manchmal sogar nach Vergeltung!

Wie sollen wir damit als Christ umgehen? Wie ist das “richtige” Verhalten?

Jesus sagt ja an einer Stelle, dass wenn uns jemand auf die Wange schlägt, wir auch noch die andere hinhalten sollen (Mt 5,39). Aber wie meint er das? Sollen wir tatsächlich jede Ungerechtigkeit einfach so hinnehmen und uns sogar weiter demütigen lassen?

Ein Priester hatte unlängst diese Frage in seiner Predigt aufgegriffen und eine für mich nachvollziehbare Antwort gegeben. Er meinte es ginge um die Grundeinstellung, nicht unbedingt darum Jesu Rat in jeder Situation eins zu eins umsetzen. D. h. in diesem Fall, grundsätzlich lieber vergeben und Nachteile in Kauf nehmen zu wollen als sich zu rächen.

Isaak der Syrer (7. Jh.), Mönch in Ninive bei Mossul im heutigen Irak, Heiliger der orthodoxen Kirchen meint dazu, dass Mitleid mit dem Täter, eine göttliche Eigenschaft ist, die zur Gerechtigkeit hinzukommen sollte:

Mitgefühl einerseits und Urteilen nach Recht und Gesetz andererseits sind, wenn sie in ein und derselben Seele leben, wie ein Mensch, der Gott und Götzenbilder in demselben Haus anbetet. Mitgefühl ist das Gegenteil vom Urteilen nach Recht und Gesetz. Das Urteilen nach Recht und Gesetz beinhaltet die gleiche Zuteilung nach vergleichbarem Maß. Es gibt einem jeden, was er verdient, nicht mehr; es neigt sich weder zur einen noch zur anderen Seite und macht keinen Unterschied in der Vergeltung. Das Mitleid jedoch wird durch die Gnade geweckt, es neigt sich allen Wesen mit gleicher Herzlichkeit zu, es hütet sich vor purer Vergeltung denen gegenüber, die der Bestrafung würdig sind, und überschüttet über alle Maßen jene, die des Guten würdig sind.

Wenn das Mitleid auf der Seite der Gerechtigkeit steht, steht das kaltherzige Urteilen nach Recht und Gesetz auf der Seite des Bösen. […] Wie ein Sandkorn viel weniger wiegt als reines Gold, so wiegt auch das Bedürfnis Gottes nach einem gerechten Urteil viel weniger als sein Mitleid. Wie eine Handvoll Sand, die in den großen Ozean fällt, so sind die Sünden allen Fleisches im Vergleich zu Gottes Vorsehung und Erbarmen. So wie eine reichlich fließende Quelle nicht durch eine Handvoll Staub verstopft werden kann, so kann auch das Mitleid des Schöpfers nicht durch die Bosheit der Geschöpfe besiegt werden. Wer beim Beten im Groll verharrt, der ist wie ein Mensch, der ins Meer aussät und auf Ernte hofft.

Geistliche Unterweisungen, 1. Reihe, Nr. 58 (in Œuvres spirituelles, coll. Théophanie, DDB 1981, p. 312–313, rev.; ins Dt. übers. © Evangelizo)